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Die Geister des Asphalts
Europa hat viele verlassene Orte – alte Fabriken, Militäranlagen, Bahnlinien. Doch einige der interessantesten sind jene, auf denen einst Reifen quietschten, Neon flackerte und Beats durch die Nacht dröhnten: vergessene Rennstrecken und ehemalige Street Racing-Spots, die zu kulturellen Ruinen geworden sind.
Von stillgelegten Formel-Strecken in Finnland bis zu verlassenen Docks in Marseille – diese Orte sind mehr als Überreste eines Motorsports. Sie erzählen Geschichten von Jugendkulturen, Migration, Techno, Subversion – und der ewigen Sehnsucht nach Geschwindigkeit.



Keimola Motor Stadium: Der finnische Mythos
Ein gutes Beispiel: das Keimola Motor Stadium, rund 25 km außerhalb von Helsinki. In den 1960ern als prestigeträchtige Strecke für internationale Formelrennen gebaut, wurde Keimola zum Treffpunkt einer neuen Generation von Motorsport-Fans – und später zur Bühne für illegale Rennen, Underground-Konzerte und ein Lebensgefühl zwischen DIY und Daseinssuche.
Nach der Schließung in den 1980ern verwandelte sich Keimola in einen geheimen Pilgerort. Fotografen, Street Racer und urbane Explorer:innen besuchten die Strecke wie ein Heiligtum. An den Betonwänden Graffiti-Zitate: "Only the street remembers."

Marseille: Containerhafen-Drifts und Hood-Mythologien
In den 2000ern war der alte Hafenbereich von Marseille einer der vibrierendsten Street-Racing-Spots Europas. Die Kombination aus North-African Street Culture, französischem Rap und getunten 206ern erschuf eine ganz eigene Ästhetik – irgendwo zwischen Banlieue Beats, Fast & Furious und mediterraner Melancholie.
Diese Rennen hatten keine Sponsoren, keine Genehmigungen – nur Regeln der Straße: Ehre, Mut, und ein Ohr für den Bass. Inoffizielle DJs spielten Sets aus dem Kofferraum. Es war ein Spiel mit Risiko – aber auch mit Identität.
Heute ist das Gebiet umzäunt, durchgentrifiziert, versiegelt. Doch auf YouTube leben die Aufnahmen weiter. Und in den Lyrics aktueller Marseille-Rapper wird die „nuit des moteurs“ immer wieder heraufbeschworen.

Popkultur, Performance, Protest
Was die Street-Racing-Kultur so faszinierend macht, ist ihre Nähe zur Popkultur. Man denke an Fast & Furious: Tokyo Drift, das nicht nur Driften als Style, sondern auch als Subkultur inszenierte. Oder an Musikvideos von Künstlern wie PNL, Skepta oder Ufo361, die mit getunten Maschinen, leeren Autobahnen und urbanen Nachtszenen ganze Milieus erzählen.
Auch Marken wie Nike, Supreme oder Balenciaga zitieren Racing-Aesthetics – sei es durch Formel-1-Kollaborationen oder durch Motorsport-inspirierte Kampagnen. Dabei geht es nie nur um Technik – sondern um Geschwindigkeit als Symbol: für Flucht, für Aufstieg, für die Eroberung des urbanen Raums.


The Revival: Was zurückkehrt, kommt anders
In Thessaloniki wird gerade ein verlassenes Areal, auf dem früher illegal geraced wurde, zur temporären Kulisse für ein interdisziplinäres Festival umgebaut – mit Breakdance, e-Mobility-Prototypen und Storytelling-Workshops. Der Ort ist derselbe – aber die Energie ist neu.
Denn die nächste Generation denkt anders: Statt PS zählen heute oft Purpose und Pop. Der Drang nach Ausdruck ist geblieben – aber er findet neue Mittel. Von Solar-Driftkarts bis VR-Race-Simulationen in verlassenen Hangars: Die Street bleibt laut. Nur ihr Sound hat sich verändert.

Die Wieder-entdecker:innen
Heute sind viele dieser Orte offiziell vergessen – aber kulturell lebendiger denn je. Urbane Kollektive wie Asphalt Archives in Frankreich oder Ruinen des Rauschens in Berlin dokumentieren ehemalige Racing-Hotspots durch Dokus, Podcasts, Fotoessays.
Was sie verbindet: Sie erzählen nicht nur von der Vergangenheit, sondern stellen Fragen an die Zukunft. Was passiert, wenn öffentlicher Raum immer stärker kontrolliert wird? Wenn Mobilität zur Servicefrage wird? Wenn Geschwindigkeit nur noch digital simuliert wird?
In diesen Fragen liegt die politische Sprengkraft dieser vergessenen Tracks.

Asphalt vergisst nicht
Vergessene Rennstrecken sind die verlorenen Gedichte des Urbanen. Sie sind Archive von Rebellion, Orte, an denen Maschinen, Musik und Menschen kurzzeitig eins wurden.
REHASH geht diesen Spuren nach – nicht aus Nostalgie, sondern weil diese Orte uns zeigen, wie Kultur sich in Bewegung ausdrückt. Und weil sie uns daran erinnern, dass jede Kurve, jeder Burnout, jede Nachtfahrt eine Geschichte war – und vielleicht wieder wird.